Gottgetreu im Erzgebirge

Auf die Flussetappe folgt die Bergetappe. Der Grenzverlauf entlang der Oder und der Neiße liegt hinter mir. Jetzt will ich der deutschen Grenze durchs Erzgebirge folgen. Mein Rubikon ist die Elbe, denke ich, während ich mit der Fähre von Bad Schandau ans andere Elbufer übersetze. 1575 Höhenmeter und 66 Kilometer liegen am heutigen Tag vor mir. Was wohl mein Akku dazu sagt? Wird er das packen? Schon die erste Steigung in den Ort mit dem verheißungsvollen Namen Schöna hat es in sich. Und während ich kräftig in die Pedale trete, spüre ich: Das fühlt sich gut an! So schön es ist, an einem Fluss entlang zu radeln, das hier fühlt sich besser an. Ich bin doch wohl eher ein Bergmensch. Als ich schließlich oben bin, belohnt mich Schöna mit einem herrlichen Rückblick auf das versunkene Elbtal und das dahinter aufragende Elbsandsteingebirge.

Beim Weiterfahren fällt mein Blick auf den Akku. Das erste von fünf Lichtern meines Akkus ist aus. Weitere sechs Steigungen liegen vor mir, bis ich mein Etappenziel erreicht habe. Und da ist sie schon, die kleine impertinente Stimme in meinem Kopf, die sagt: „Das reicht auf keinen Fall.“ Sie wird zur ständigen mahnenden Begleiterin, während ich bergauf bergab durch die waldreiche Landschaft fahre. Sie mahnt mich, doch lieber auf der untersten Stufe zu bleiben und nicht schon die größere Unterstützung zu wählen, auch wenn meine Beine eindeutig für mehr plädieren. Ich höre auf meine Beine. „Aber auf keinen Fall in ‚Hoch‘ schalten,“ höre ich sie knöttern. Gut gut. Das tue ich nicht, schalte lieber auf den kleinsten Gang runter und surre wie eine emsig ratternde Nähmaschine den nächsten Anstieg hoch. Dazwischen versuche ich die Landschaft zu genießen.

Bizarre Sandsteinfelsen säumen den Waldweg, ragen zwischen den Bäumen heraus und geben mir das Gefühl mich durch eine Urzeit zu bewegen. Dann öffnet sich der Wald, ich schaue auf die Hügellandschaft, die sich vor mir ausbreitet und es geht bergab. „Oh, oh, oh“ meldet sich die Bedenkenträgerin und versucht mir damit die Abfahrt zu vermiesen. „Das musst du alles wieder hoch!“ 35 Kilometer liegen hinter mir und der Akku ist mehr als halb leer. Die Bedenkenträgerin hat mittlerweile noch einen Gefährten bekommen. Den Hochrechner. Der kommt nach mehrfachem Rechnen an Hand des Streckenprofils auch zu dem Schluß, dass Nachladen eine gute Idee wäre. Und während die beiden sich gegenseitig bestärken und mir damit im Nacken sitzen, entscheide ich mich, am nächsten Gasthaus anzuhalten und dort sowohl mir als auch dem Akku etwas Stärkung zu gönnen.

Da ich – wie mir ein hübsches Schild zeigt – mittlerweile auf der alten Poststraße von Dresden nach Teplice unterwegs bin, wird ja wohl bald ein Wirtshaus kommen. Die damaligen Pferde brauchten ja auch ihren Wechsel.

Ich sause also Fürstenwalde entgegen in der beruhigten Gewissheit, in dem herrschaftlich klingenden Ort ein entsprechendes Etablissement zu finden. Es gibt dort auch einen Gasthof – genauer gesagt, es gab einen. Der Schriftzug am stattlichen Haus ist schon etwas verblichen und der hölzerne Aushangkasten für die Speisekarte hat nur noch Spinnweben anzubieten. Ob die Schließung Corona geschuldet ist oder die Wirtschaft keine Nachfolge gefunden hat, darüber nachzusinnen ist müßig. Auf jeden Fall gibt es hier keine Stärkung mehr. Der Fürst hat den Wald verlassen. Der Akku meldet nur mehr 23% Ladung und es kommen noch zwei Steigungen, die erste liegt direkt vor meiner Nase und erstreckt sich ausholend den Berg hinauf.

Der unverbesserliche Optimist in mir holt sein Fähnchen mit der Aufschrift ‚Das wär doch gelacht‘ heraus, mit dem er allen Bedenken und Hochrechnungen zum Trotz Zuversicht heranwedelt und ich trete in die Pedale. Mittlere Stufe – ‚Eco‘ hat bei der Steigung gar keinen Sinn – und jetzt ist es auch egal, sag ich mir. Wird schon. Der Optimist schwingt das Fähnchen. Nur nicht den Glauben verlieren! Und ehe die Unke und der Hochrechner noch ‚Hättste mal früher‘ oder ‚Halt‘ sagen können, bin ich schon auf dem Weg nach oben.

Die Kuppe kommt in Sicht und neben ihr am Hang mache ich eine Handvoll Häuser aus. Der Akku ist kurz vorm Countdown und meldet 11%.  Da taucht eine Bushaltestelle auf und als ich die Inschrift lese, traue meinen Augen kaum.

Die Haltestelle heißt „Gottgetreu“. Wenn das kein Zeichen ist, sage ich mir. Hier gibt es sicher Hilfe! Denke es und biege schon in das Örtchen ab. Vorm zweiten Haus sitzt ein alter Mann auf einer Bank, vor sich einen Rollator. Ich halte an und schildere ihm mein Problem. Er schaut mich skeptisch an – oje, die haben hier gar keinen Strom, schießt es mir durch den Kopf – und dann sagt er: „Was haben Sie gesagt? Ich hör nicht so gut.“ Ich lache ihn erleichtert an und äußere kurz und knapp meinen Wunsch: „Ich brauche eine Steckdose!“ und zeige auf den Akku. Keine fünf Minuten später hängt mein Fahrrad in der Garage am Strom und ich sitze mit dem alten Mann und seiner Frau auf der Bank vorm Haus.

„Einen schönen Blick haben Sie hier“, beginne ich die Konversation. Es gilt 45 Minuten zu überbrücken. „Das sagen immer alle Leute“, erwidert die alte Frau. „Für mich ist es ganz normal. Ich bin hier nicht weggekommen.“ Es ist ihr Elternhaus. Der Vater war Zimmermann und die Mutter krank. Deshalb konnte sie nie weg, sagt sie. Ihr Mann hat im nahen Steinbruch gearbeitet, sie hatten auch Vieh. „Schaun Sie doch, jetzt gibt es hier nur noch Wiesen, die nicht gemäht werden. Niemand braucht das Gras. Es gibt kein Vieh mehr.“ Dann fallen die ersten Regentropfen. „Kommen Sie rein“, sagt sie und bittet mich ins Haus. Wir setzen uns in die Küche. Durchs Fenster ist ein kleiner Gemüsegarten zu sehen. „Das macht die Schwiegertochter“, erfahre ich. Der Sohn und seine Frau wohnen im Haus nebenan. Vor der Wende lebten 70 Menschen in Gottgetreu. Jetzt sind es noch 15. „Die Jungen sind alle weggezogen.“ Auch ihre Enkel. Eine Enkelin sogar auf eine Nordseeinsel. Dann kommt ihr Ehemann herein und löst sie mit dem Gesellschaft-Leisten ab. Ich erfahre von seinen Augenleiden und dass er kaum noch etwas sieht. „Können Sie denn fernsehen?“, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Gehen fällt ihm auch sehr schwer. Und ich weiß ja schon, dass er schlecht hört. „Er war so ein tüchtiger Mann“, hatte seine Frau mir vorhin erzählt. Der Zeiger der Küchenuhr rückt langsam auf die halbe Stunde vor. „Ich glaube, jetzt kann ich weiterfahren“, sage ich und stehe auf.

Der Regen hat aufgehört. Es war nur eine Husche. Ich packe in der Garage das Ladegerät ein und schalte den Akku an. 35% Prozent. Das reicht dicke, dazu brauche ich gar keinen Hochrechner. Ich schiebe das Rad zur Haustür und da stehen sie. Ob ich ein Foto von Ihnen machen dürfe, frage ich. Natürlich. Sie lächeln mich an.

Ich bedanke mich noch einmal für ihre Gastfreundschaft und steige aufs Rad. Winke zum Abschied. Sie winken zurück. Wohlan denn. Auf zur letzten Steigung. Noch ganz in Gedanken bei den beiden radele ich vor mich hin. Da tauchen zwei Namen aus meinem Gedächtnis auf: Philemon und Baucis. Das Paar aus Ovids Metamorphosen dämmert es mir. Die Altsprachlerin in mir ist ganz stolz, dass sie auch mal was beitragen kann. Die beiden waren die einzigen, die den verkleideten Göttern Zeus und Hermes die Tür öffneten und sie in ihrem kargen Heim bewirteten. Die einzigen treuen Seelen. Gottgetreu. Ich hatte mich nicht in den Bewohnern des Ortes getäuscht. Nur schade, denke ich, dass ich nicht als Götterbote Hermes wieder zu ihnen zurückkehren kann, um den beiden ein sorgloses Leben zu bescheren.

 

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