Gottgetreu im Erzgebirge

Auf die Flussetappe folgt die Bergetappe. Der Grenzverlauf entlang der Oder und der Neiße liegt hinter mir. Jetzt will ich der deutschen Grenze durchs Erzgebirge folgen. Mein Rubikon ist die Elbe, denke ich, während ich mit der Fähre von Bad Schandau ans andere Elbufer übersetze. 1575 Höhenmeter und 66 Kilometer liegen am heutigen Tag vor mir. Was wohl mein Akku dazu sagt? Wird er das packen? Schon die erste Steigung in den Ort mit dem verheißungsvollen Namen Schöna hat es in sich. Und während ich kräftig in die Pedale trete, spüre ich: Das fühlt sich gut an! So schön es ist, an einem Fluss entlang zu radeln, das hier fühlt sich besser an. Ich bin doch wohl eher ein Bergmensch. Als ich schließlich oben bin, belohnt mich Schöna mit einem herrlichen Rückblick auf das versunkene Elbtal und das dahinter aufragende Elbsandsteingebirge.

Beim Weiterfahren fällt mein Blick auf den Akku. Das erste von fünf Lichtern meines Akkus ist aus. Weitere sechs Steigungen liegen vor mir, bis ich mein Etappenziel erreicht habe. Und da ist sie schon, die kleine impertinente Stimme in meinem Kopf, die sagt: „Das reicht auf keinen Fall.“ Sie wird zur ständigen mahnenden Begleiterin, während ich bergauf bergab durch die waldreiche Landschaft fahre. Sie mahnt mich, doch lieber auf der untersten Stufe zu bleiben und nicht schon die größere Unterstützung zu wählen, auch wenn meine Beine eindeutig für mehr plädieren. Ich höre auf meine Beine. „Aber auf keinen Fall in ‚Hoch‘ schalten,“ höre ich sie knöttern. Gut gut. Das tue ich nicht, schalte lieber auf den kleinsten Gang runter und surre wie eine emsig ratternde Nähmaschine den nächsten Anstieg hoch. Dazwischen versuche ich die Landschaft zu genießen.

Bizarre Sandsteinfelsen säumen den Waldweg, ragen zwischen den Bäumen heraus und geben mir das Gefühl mich durch eine Urzeit zu bewegen. Dann öffnet sich der Wald, ich schaue auf die Hügellandschaft, die sich vor mir ausbreitet und es geht bergab. „Oh, oh, oh“ meldet sich die Bedenkenträgerin und versucht mir damit die Abfahrt zu vermiesen. „Das musst du alles wieder hoch!“ 35 Kilometer liegen hinter mir und der Akku ist mehr als halb leer. Die Bedenkenträgerin hat mittlerweile noch einen Gefährten bekommen. Den Hochrechner. Der kommt nach mehrfachem Rechnen an Hand des Streckenprofils auch zu dem Schluß, dass Nachladen eine gute Idee wäre. Und während die beiden sich gegenseitig bestärken und mir damit im Nacken sitzen, entscheide ich mich, am nächsten Gasthaus anzuhalten und dort sowohl mir als auch dem Akku etwas Stärkung zu gönnen.

Da ich – wie mir ein hübsches Schild zeigt – mittlerweile auf der alten Poststraße von Dresden nach Teplice unterwegs bin, wird ja wohl bald ein Wirtshaus kommen. Die damaligen Pferde brauchten ja auch ihren Wechsel.

Ich sause also Fürstenwalde entgegen in der beruhigten Gewissheit, in dem herrschaftlich klingenden Ort ein entsprechendes Etablissement zu finden. Es gibt dort auch einen Gasthof – genauer gesagt, es gab einen. Der Schriftzug am stattlichen Haus ist schon etwas verblichen und der hölzerne Aushangkasten für die Speisekarte hat nur noch Spinnweben anzubieten. Ob die Schließung Corona geschuldet ist oder die Wirtschaft keine Nachfolge gefunden hat, darüber nachzusinnen ist müßig. Auf jeden Fall gibt es hier keine Stärkung mehr. Der Fürst hat den Wald verlassen. Der Akku meldet nur mehr 23% Ladung und es kommen noch zwei Steigungen, die erste liegt direkt vor meiner Nase und erstreckt sich ausholend den Berg hinauf.

Der unverbesserliche Optimist in mir holt sein Fähnchen mit der Aufschrift ‚Das wär doch gelacht‘ heraus, mit dem er allen Bedenken und Hochrechnungen zum Trotz Zuversicht heranwedelt und ich trete in die Pedale. Mittlere Stufe – ‚Eco‘ hat bei der Steigung gar keinen Sinn – und jetzt ist es auch egal, sag ich mir. Wird schon. Der Optimist schwingt das Fähnchen. Nur nicht den Glauben verlieren! Und ehe die Unke und der Hochrechner noch ‚Hättste mal früher‘ oder ‚Halt‘ sagen können, bin ich schon auf dem Weg nach oben.

Die Kuppe kommt in Sicht und neben ihr am Hang mache ich eine Handvoll Häuser aus. Der Akku ist kurz vorm Countdown und meldet 11%.  Da taucht eine Bushaltestelle auf und als ich die Inschrift lese, traue meinen Augen kaum.

Die Haltestelle heißt „Gottgetreu“. Wenn das kein Zeichen ist, sage ich mir. Hier gibt es sicher Hilfe! Denke es und biege schon in das Örtchen ab. Vorm zweiten Haus sitzt ein alter Mann auf einer Bank, vor sich einen Rollator. Ich halte an und schildere ihm mein Problem. Er schaut mich skeptisch an – oje, die haben hier gar keinen Strom, schießt es mir durch den Kopf – und dann sagt er: „Was haben Sie gesagt? Ich hör nicht so gut.“ Ich lache ihn erleichtert an und äußere kurz und knapp meinen Wunsch: „Ich brauche eine Steckdose!“ und zeige auf den Akku. Keine fünf Minuten später hängt mein Fahrrad in der Garage am Strom und ich sitze mit dem alten Mann und seiner Frau auf der Bank vorm Haus.

„Einen schönen Blick haben Sie hier“, beginne ich die Konversation. Es gilt 45 Minuten zu überbrücken. „Das sagen immer alle Leute“, erwidert die alte Frau. „Für mich ist es ganz normal. Ich bin hier nicht weggekommen.“ Es ist ihr Elternhaus. Der Vater war Zimmermann und die Mutter krank. Deshalb konnte sie nie weg, sagt sie. Ihr Mann hat im nahen Steinbruch gearbeitet, sie hatten auch Vieh. „Schaun Sie doch, jetzt gibt es hier nur noch Wiesen, die nicht gemäht werden. Niemand braucht das Gras. Es gibt kein Vieh mehr.“ Dann fallen die ersten Regentropfen. „Kommen Sie rein“, sagt sie und bittet mich ins Haus. Wir setzen uns in die Küche. Durchs Fenster ist ein kleiner Gemüsegarten zu sehen. „Das macht die Schwiegertochter“, erfahre ich. Der Sohn und seine Frau wohnen im Haus nebenan. Vor der Wende lebten 70 Menschen in Gottgetreu. Jetzt sind es noch 15. „Die Jungen sind alle weggezogen.“ Auch ihre Enkel. Eine Enkelin sogar auf eine Nordseeinsel. Dann kommt ihr Ehemann herein und löst sie mit dem Gesellschaft-Leisten ab. Ich erfahre von seinen Augenleiden und dass er kaum noch etwas sieht. „Können Sie denn fernsehen?“, frage ich. Er schüttelt den Kopf. Gehen fällt ihm auch sehr schwer. Und ich weiß ja schon, dass er schlecht hört. „Er war so ein tüchtiger Mann“, hatte seine Frau mir vorhin erzählt. Der Zeiger der Küchenuhr rückt langsam auf die halbe Stunde vor. „Ich glaube, jetzt kann ich weiterfahren“, sage ich und stehe auf.

Der Regen hat aufgehört. Es war nur eine Husche. Ich packe in der Garage das Ladegerät ein und schalte den Akku an. 35% Prozent. Das reicht dicke, dazu brauche ich gar keinen Hochrechner. Ich schiebe das Rad zur Haustür und da stehen sie. Ob ich ein Foto von Ihnen machen dürfe, frage ich. Natürlich. Sie lächeln mich an.

Ich bedanke mich noch einmal für ihre Gastfreundschaft und steige aufs Rad. Winke zum Abschied. Sie winken zurück. Wohlan denn. Auf zur letzten Steigung. Noch ganz in Gedanken bei den beiden radele ich vor mich hin. Da tauchen zwei Namen aus meinem Gedächtnis auf: Philemon und Baucis. Das Paar aus Ovids Metamorphosen dämmert es mir. Die Altsprachlerin in mir ist ganz stolz, dass sie auch mal was beitragen kann. Die beiden waren die einzigen, die den verkleideten Göttern Zeus und Hermes die Tür öffneten und sie in ihrem kargen Heim bewirteten. Die einzigen treuen Seelen. Gottgetreu. Ich hatte mich nicht in den Bewohnern des Ortes getäuscht. Nur schade, denke ich, dass ich nicht als Götterbote Hermes wieder zu ihnen zurückkehren kann, um den beiden ein sorgloses Leben zu bescheren.

 

Zen-Radeln oder heute nur Deich

Auf nach Frankfurt! Vom Main an die Oder. Jetzt sind es nur noch 70 Kilometer. Die Frankfurterin ist auf dem Weg. Rauf auf den Deich und rein in die Pedale. Der Wind kommt von rechts, die Oder liegt links und dazwischen ein Asphalt-Band, das die Landschaft in rechts und links teilt. Dieses Band im Blick radele ich vor mich hin. 21,6 Stundenkilometer meldet der Tacho, gleichmäßig bewegen sich meine Knie auf und ab. Leise schnurrt die Motorunterstützung, Frösche quaken, Lerchen tirilieren, der Wind bläst raschelnd durch Pappeln und ich denke: Heute mal mit niemandem plaudern, keine Info-Tafeln lesen (für die ich sonst IMMER anhalte) und am liebsten auch keine Sehenswürdigkeiten.

Kann der Deich nicht einfach bis Frankfurt durchgehen? Nur Deich. Keine Ablenkung. Nichts weiter, nur Radeln dürfen und die Landschaft an mir vorbeiziehen lassen. Den Wind spüren (naja nicht unbedingt direkt von vorn), die Sonne genießen (keine Sorge Sonnenschutzfaktor 50), hin und wieder anhalten und noch ein Foto machen (der abgestorbene Baum ist doch malerisch).

Warum eigentlich nicht. Wer sagt mir, dass ich unbedingt wissen muss, was hier rechts und links passierte. All die Brückensprengungen am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den dadurch Abgeschnittenen auf der anderen Seite, die Oderflut 1997, der alte Fritz, der hier die Oder abtrennen und neu kanalisieren ließ. Eine kleine Stimme meldet sich in mir: „Das bist du doch den Menschen schuldig, die hier waren. Oder gestrandet oder ertrunken sind oder einfach nur hier gelebt haben.“ Und aus dem Off höre ich meinen historisch bewanderten Vater dazu sagen. „Das ist doch interessant. Und wer weiß, ob Du noch mal herkommst.“

Na super! Jeder Therapeut hätte seine Freude an meinen inneren Stimmen. Dazu gesellen sich noch die Plaudereien der letzten Tage. Als links eine Schafsherde in der Aue auftaucht, höre ich mich innerlich zu Lars sagen: „Schafe“ und nach einer Weile antwortet er: „Ja“ – Pause – „Viele!“. Genug gedacht, sage ich meinem Kopf und lasse die Gedanken vor mir auf den Asphalt plumpsen. So wie es Zenlehrer empfehlen. Wenn Gedanken kommen, sie einfach ziehen lassen, wie Wolken am Himmel. Nur dass ich hier besser auf den Boden sehe, als in den Himmel. Deshalb lasse ich die Gedanken vor mir auf den Deich fallen. Plopp. Noch einer. Plopp. Plopp. Plopp. Halte den Kopf in den Fahrtwind und denke: „Nicht noch was!“. Fast vierzehn Tage Neues entdeckt, historische Fakten aufgenommen, von einzelnen menschlichen Schicksalen gehört und gelesen, fotografiert und mitgefühlt. Da passt jetzt offenbar nichts mehr rein.

Pause für den Kopf und Weitertreten für die Beine. Der Weg tut ein Übriges dazu und führt einfach weiter geradeaus das Asphaltband entlang. Jetzt nur Atmen: Einatmen (und dabei den Mund geschlossen halten – so viele Pappelsamen)  und Ausatmen (das geht auch bei geöffnetem Mund und bläst die kleine Mücken weg). Dabei weiter in die Pedale treten. Einatmen – treten – ausatmen – treten. Mein Blick fällt auf den Tacho: Kontinuierlich 21,6 Stundenkilometer. Die Reifen singen, der Wind streicht sanft über meine Arme, ein Storchenpaar fliegt vor mir mit elegantem Flügelschlag über den Deich. Und dann fällt mein Entschluss. Ich muss heute gar nichts. Nur Da sein und Radfahren. Egal, ob jetzt links eine alte Festung liegt und darum buhlt besichtigt zu werden oder ob der Ort mit dem Räucherfisch-Imbiss kommt, von dem mir der Wirt vom ‚Alten Fritz‘ erzählt hat und wo ich Mittagspause machen und den Fischer von ihm grüßen soll. „Echt jetzt“, fragt mein Kopf. „Gar nicht ein bisschen anhalten?“ Nein, einfach weiterfahren. Wie wunderbar, murmelt etwas in mir.

Und als wüsste der Deich, dass ich mir wünsche, dass er immer weiter führt, pausiert er nur kurz vor einer Ortschaft, um dann am Ende der Dorfstraße links, wieder aufzutauchen. Und noch mal. Und noch mal. Und noch einmal. Doch dann ist da nach 55 Kilometern der Stein mit der 0,1 und der Deich ist endgültig zu Ende.

Der Ort, in den ich hinein rolle heißt Lebus und ist eine alte historische Bischofsstadt. Wie von selbst findet mein Rad den Weg zur Kirche. Eine Pforte ist einladend geöffnet und führt in eine Art offenen Vorraum. Leise Orgelmusik ist zu hören. Zaghaft trete ich näher. Die Kirche ist leer. An der Orgel sitzt niemand. Die Musik ist dennoch raumfüllend. An einer Säule hängt ein Zettel: „Herzlich willkommen. Wir wollen Ihnen die Möglichkeit geben, in unserer offenen Kirche zur Ruhe zu kommen, zu beten, in der Bibel zu lesen oder einfach der Musik zu lauschen.“

Ich lasse mich vor der Kirche auf eine der Bänke sinken. Da steht auch eine Flasche Wasser und ein Glas. Hier hat jemand wirklich an alles gedacht. Ich lehne mich an, schließe die Augen, lausche der Musik und lasse sie wirken. Und siehe da. Der Kopf schweigt tatsächlich für einen Moment, ich atme tief aus. Und spüre, dass sich dafür mein Herz ganz erfüllt anfühlt. Angekommen.

Nur ein paar Kilometer später komme ich dann tatsächlich in Frankfurt an. Und auch irgendwie in mainem inneren Frankfurt. Oder?

Von Tieren und Menschenarten

Apropos Vogelbeobachtungsstationen. Im Nationalpark Unteres Odertal liegt eine direkt auf dem Deich. Seeschwalbe heißt sie. In der Tür steht ein junger Mann. Gerade war er noch mit seinem Moped an mir vorbeigezogen. Ich halte an und steige vom Rad. Für einen Vogelbeobachter hat er wenig große Objektive an sich hängen. Genau genommen nicht eines. Auch keine Kamera.

„Kommen Sie her, um Vögel zu beobachten“, starte ich meinen Plauderversuch. „Nein“, sagt. „Ist aber schön hier“, knüpft er bereitwillig an mein Konversationsangebot an. „Und windstill hier drin“, setze ich fort. Dann schauen wir beide durch die Luken ins Poldergebiet und auf die Wasserstelle, die vor der Beobachtungsstation liegt.

Jede Menge Schwäne sind darauf, ein weißer Fleck neben dem anderen. „Schwäne“, sage ich. „Ja“, sagt er und nach einer Weile: „Viele.“ Dann lachen wir beide. „Kennen Sie sich aus?“ versuche ich es weiter. Da erbarmt er sich und sagt sacht den Kopf schüttelnd: „Ich bin Angler.“

Er outet sich damit als die zweite Sorte menschlicher Spezies, der ich hier in den Oderauen begegne. Entweder Vogelbeobachter oder Angler. Was er denn hier so angele, steige ich auf den Themenwechsel ein. Bei einem Altersunterschied von schätzungsweise 30 Jahren habe ich keine Bedenken, dass er mich falsch verstehen könnte. „Hecht!“, kommt die prompte Antwort. „Aber zur Zeit nicht“, schiebt er nach. Das erklärt, warum er kein Angelzeug dabei hat, denke ich. „Was ist mit den Hechten“, frage ich, froh endlich ein Gesprächsthema gefunden zu haben. „Sie haben doch von dem Fischsterben im letzten Jahr in der Oder gehört“, erklärt er. Das Wasser mit den giftigen Algen sei nun auch in den Poldern und in den Kanälen. „So schnell fließt das hier doch nicht ab“, meint er und dass er deshalb dieses Jahr noch nicht wieder angele. Ich will dann noch wissen, wie Hecht schmeckt und ob er ihn selbst zubereitet. So zwischen Zander und Karpfen läge sein Geschmack, meint er und klar, bereite er ihn selbst zu. Dann geht uns allmählich der Gesprächsstoff aus.

Wie er mit Vornamen heißt, will ich zum Abschied wissen. „Lars“, sagt er. „Und Sie?“ „Sibylle“. „Und was machen Sie heute noch mit dem Tag“, frage ich. „Den Gott einen lieben Mann sein lassen?“, meint er die Achseln zuckend. „Gute Idee“, pflichte ich ihm bei, steige aufs Rad und fahre los. Stoppe wieder und drehe mich um. „Darf ich noch ein Foto machen?“, frage ich. Ich darf und als ich mit den Worten „Tschüss Lars“, wieder aufs Rad steige, ruft er mir hinterher. „Schönen Tag noch, Sibylle.“

Gegen Abend treffe ich dann auf einen der ersteren Spezies, einen Vogelfotograf, deutlich erkennbar an den großen Objektiven, die an ihm herabhängen. Ein Vogel zwitschert laut im Röhricht. „Kennen Sie den?“, höre ich mich fragen. „Nein!“, sagt er, dreht sich abrupt um und stapft entschlossen von mir weg. Aah, dämmert es mir. Die dritte Spezies: Ein Tourist. Wär er von hier, er hätte mir geantwortet. Egal ob Vogelkundler oder Angler.

Was der objektivschwere Tourist nicht ahnt. Ich weiß, wer da singt: Es handelt sich um einen Drosselrohrsänger, im Volksmund als Rohrspatz bekannt. Das vermeintliche Geschimpfe kenne ich vom Abend auf dem Steg.  Sein ausdauerndes ‚Trr trr karra-karra-karra krie krie‘ habe ich sofort erkannt. Tja, mein Lieber! Manche Fragen sind eben Fangfragen, um die Spezies zu enttarnen. Denn schließlich kenn ich mich mittlerweile auch ein bisschen aus.

Flieder zum Herrentag

Ich plaudere mich durch die Gegend. Wie wunderbar, durch ein Land zu reisen, dessen Sprache ich spreche.
Es beginnt beim Gemüsehändler am Wegrand in Vogelsang. Nur zwei Äpfel und eine kleine Salatgurke könne er mir gar nicht verkaufen, meint er und legt für einen Euro noch 4 Aprikosen dazu.

Mit den Äpfeln vom Hof seiner Schwester habe sein Gemüsestand angefangen, berichtet er. Jetzt gehört er zum Ort dazu. Und wie zur Bestätigung hält ein schwerer schwarzer Landrover an. „Morgen Guido“, wird der Fahrer begrüßt.
Die Frau, die vor mir bei ihm einkaufte, treffe ich beim ‚Erbbegräbnis‘ wieder. Ein Strauß dunkellila Flieder prangt auf dem Grab, das sie gießt. Heute sei doch Herrentag. „Da ist Flieder Pflicht“, sagt sie und wässert mit dem Rest aus der Kanne noch die Nachbargräber. Sie stammt von hier und kennt alle. Die Adelsfamilie, die im als Sehenswürdigkeit in der Landkarte verzeichneten sogenannten Erbbegräbnis liegt, allerdings auch nur aus der Geschichte.
Der Vatertag heißt hier Herrentag und erinnert damit (wie ich finde) mehr an seinen Ursprung: Die Himmelfahrt des Herrn Jesus Christus. Die Herren hier fahren an diesem Tag bevorzugt Pferdewagen oder Fahrrad. Viele haben am Lenker Fliedersträuße. „Früher waren mehr unterwegs“, erzählt mir einer der drei Männer aus Ahlbeck, die ich am Teufelsgraben (wo der Herr ist, ist auch der Teufel nicht weit ;-)) antreffe.

Das angebotene Schnäpschen lehne ich ab, dafür nehme ich eine Stunde später den angebotenen Kuchen einer Pferdewagen-Gruppe gerne an. Die sechsköpfige Runde hat auch die Damen dabei. Beim Kirschkuchen mit Zuckerglasur erfahre ich mehr. Sie kommen aus Grünhof und betreiben dort den namensgebenden Hof.  „Wir haben ausserdem noch Schweine, Hühner, Enten und Tauben. Alles, was sich essen lässt“, sagt die Bäuerin lachend. „Auch die Tauben?“, frage ich.  „Na klar“, kommt die prompte Antwort. Das nenne ich mal eine schmackhafte Art, dem zermürbenden Gurren ein Ende zu bereiten. Darauf gibt es auch hier eine Runde Schnäpschen.

Den ich wieder dankend ablehne und die letzten 15 km in Angriff nehme. Der Höhepunkt ist dann die Eroberung des schönsten Zimmers im Haus am See. Das wiederum verdanke ich der Plauderei mit dem Hotelpersonal. Die Kellnerin überredet den Kollegen, als er zögert, mir das letzte noch freie Zimmer mit Seeblick zu geben, weil es eigentlich immer nur an zwei Personen vergeben wird. „Sie ist doch drei Nächte hier,“ meint sie zwinkernd. Und so hab ich jetzt das schönste Zimmer des Hauses. Sag mir noch jemand, dass Norddeutsche kühl und distanziert seien. Ich bin nach diesem munter mit Einheimischen durchplauderten Tag von dem Vorurteil auf immer befreit.

Vor dem Paradies

Ich hatte neugierig angehalten, als ich an einem großen Tor vorbei kam, neben dem ein handgearbeitetes Holzschild den Garten Eden verhieß. Ob ich wohl mal einen Blick hineinwerfen konnte? Natürlich wurde ich enttäuscht. Nichts zu machen, der Riegel war fest verschlossen und die Hecke sehr dicht. „Na klar“, dachte ich, „so ist es nun mal mit dem Paradies – verschlossen.“ Gerade wollte ich wieder aufs Rad steigen, als ein Spaziergänger mit Hund mich ansprach. „Darf ich Sie mal was fragen“, begann er und ich nickte. „Wissen Sie wie sie Gott begegnen können?“, fuhr er fort. Ich war verdattert. Der Mann hatte nichts missionarisches an sich, trug ein ausgewaschenes Polohemd und hatte eine freundliche Strassenkötermischung an der Leine, die mich anwedelte. „Indem ich mit dem Fahrrad durch den Frühling fahre“, schlug ich vor, bereit ihm eine Chance zu geben. Er bewegte den Kopf abwägend hin und her, ich lag also nicht ganz falsch. „Sie sollten Jesus kennenlernen“, meinte er darauf. Es klang so wie, ‚kommen Sie mal vorbei, wir treffen uns immer sonntags‘. Der Hund zerrte an der Leine und wollte weiter. „Wissen Sie was“, sagte der Mann. Jetzt sagt er es, dachte ich. Doch weit gefehlt. „Wenn Sie nach Hause kommen“, meinte er, „dann holen Sie sich mal die Bibel – wenn Sie eine haben – und lesen mal wieder darin. Da finden Sie Gott, das sind nämlich seine Worte.“ Sagte es, hob grüßend die Hand und schickte sich an weiterzugehen. Nicht mit mir!

„Sehen Sie wo wir gerade stehen?“ Fragte ich ihn und zeigte auf das Holzschild ‚Garten Eden‘. „Ist geschlossen“, meinte er „wegen der Sünde.“ „Schau’n Sie mal“ entfuhr es mir, „immerhin ist ein neues Schloss dran. Es scheint sich also jemand drum zu kümmern.“ Da lachte er und der Hund zog ihn weiter.

Als ich aufs Rad stieg und weiterfuhr nahm ich mir vor, wenn ich heute Abend zuhause bin, mal wieder in die Bibel zu schauen.

 

Jäten zum Gedenken

Ich folge gerne Hinweisen am Wegrand. ‚Buchenwald-Denkmal‘ stand da und ich stoppte. Ich war auf dem Saale-Radweg unterwegs und hatte gerade Burgk im Vogtland passiert. Hier ein Buchenwald-Denkmal? So weit weg von Weimar?
50 Meter neben der Straße befand sich eine Baumgruppe und ich radelte hin. Es war eine Gedenkstätte für 63 unbekannte KZ-Häftlinge, deren Leben hier 1945 auf einem der Todesmärsche unter unmenschlichsten Bedingungen endete. Ein Mann jätete dort Unkraut. Ob er die Anlage pflege, fragte ich ihn. „Nein, das mache ich mal so“, sagte er. Er habe die Gedenkstätte selbst erst vor ein paar Wochen beim Vorbeifahren entdeckt, bekannte der Mann. „Heute bin ich wiedergekommen und habe ein paar Blumen mitgebracht“, sagte er und wies auf einen kleinen Strauß roter Rosen, die am Fuße des Gedenksteins platziert waren. Dann senkte er wieder seinen Kopf und riss beherzt noch mehr Unkraut aus. Was für eine bemerkenswerte Geste, dachte ich, als ich den kleinen Friedhof verließ. „Danke!“ entschlüpfte es mir. Ich sagte es in die Landschaft. Es war nicht unbedingt an den Mann direkt gerichtet, eher dafür, dass es Menschen gibt, die so etwas Handfestes wie er tun.