Zen-Radeln oder heute nur Deich
Auf nach Frankfurt! Vom Main an die Oder. Jetzt sind es nur noch 70 Kilometer. Die Frankfurterin ist auf dem Weg. Rauf auf den Deich und rein in die Pedale. Der Wind kommt von rechts, die Oder liegt links und dazwischen ein Asphalt-Band, das die Landschaft in rechts und links teilt. Dieses Band im Blick radele ich vor mich hin. 21,6 Stundenkilometer meldet der Tacho, gleichmäßig bewegen sich meine Knie auf und ab. Leise schnurrt die Motorunterstützung, Frösche quaken, Lerchen tirilieren, der Wind bläst raschelnd durch Pappeln und ich denke: Heute mal mit niemandem plaudern, keine Info-Tafeln lesen (für die ich sonst IMMER anhalte) und am liebsten auch keine Sehenswürdigkeiten.
Kann der Deich nicht einfach bis Frankfurt durchgehen? Nur Deich. Keine Ablenkung. Nichts weiter, nur Radeln dürfen und die Landschaft an mir vorbeiziehen lassen. Den Wind spüren (naja nicht unbedingt direkt von vorn), die Sonne genießen (keine Sorge Sonnenschutzfaktor 50), hin und wieder anhalten und noch ein Foto machen (der abgestorbene Baum ist doch malerisch).
Warum eigentlich nicht. Wer sagt mir, dass ich unbedingt wissen muss, was hier rechts und links passierte. All die Brückensprengungen am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den dadurch Abgeschnittenen auf der anderen Seite, die Oderflut 1997, der alte Fritz, der hier die Oder abtrennen und neu kanalisieren ließ. Eine kleine Stimme meldet sich in mir: „Das bist du doch den Menschen schuldig, die hier waren. Oder gestrandet oder ertrunken sind oder einfach nur hier gelebt haben.“ Und aus dem Off höre ich meinen historisch bewanderten Vater dazu sagen. „Das ist doch interessant. Und wer weiß, ob Du noch mal herkommst.“
Na super! Jeder Therapeut hätte seine Freude an meinen inneren Stimmen. Dazu gesellen sich noch die Plaudereien der letzten Tage. Als links eine Schafsherde in der Aue auftaucht, höre ich mich innerlich zu Lars sagen: „Schafe“ und nach einer Weile antwortet er: „Ja“ – Pause – „Viele!“. Genug gedacht, sage ich meinem Kopf und lasse die Gedanken vor mir auf den Asphalt plumpsen. So wie es Zenlehrer empfehlen. Wenn Gedanken kommen, sie einfach ziehen lassen, wie Wolken am Himmel. Nur dass ich hier besser auf den Boden sehe, als in den Himmel. Deshalb lasse ich die Gedanken vor mir auf den Deich fallen. Plopp. Noch einer. Plopp. Plopp. Plopp. Halte den Kopf in den Fahrtwind und denke: „Nicht noch was!“. Fast vierzehn Tage Neues entdeckt, historische Fakten aufgenommen, von einzelnen menschlichen Schicksalen gehört und gelesen, fotografiert und mitgefühlt. Da passt jetzt offenbar nichts mehr rein.
Pause für den Kopf und Weitertreten für die Beine. Der Weg tut ein Übriges dazu und führt einfach weiter geradeaus das Asphaltband entlang. Jetzt nur Atmen: Einatmen (und dabei den Mund geschlossen halten – so viele Pappelsamen) und Ausatmen (das geht auch bei geöffnetem Mund und bläst die kleine Mücken weg). Dabei weiter in die Pedale treten. Einatmen – treten – ausatmen – treten. Mein Blick fällt auf den Tacho: Kontinuierlich 21,6 Stundenkilometer. Die Reifen singen, der Wind streicht sanft über meine Arme, ein Storchenpaar fliegt vor mir mit elegantem Flügelschlag über den Deich. Und dann fällt mein Entschluss. Ich muss heute gar nichts. Nur Da sein und Radfahren. Egal, ob jetzt links eine alte Festung liegt und darum buhlt besichtigt zu werden oder ob der Ort mit dem Räucherfisch-Imbiss kommt, von dem mir der Wirt vom ‚Alten Fritz‘ erzählt hat und wo ich Mittagspause machen und den Fischer von ihm grüßen soll. „Echt jetzt“, fragt mein Kopf. „Gar nicht ein bisschen anhalten?“ Nein, einfach weiterfahren. Wie wunderbar, murmelt etwas in mir.
Und als wüsste der Deich, dass ich mir wünsche, dass er immer weiter führt, pausiert er nur kurz vor einer Ortschaft, um dann am Ende der Dorfstraße links, wieder aufzutauchen. Und noch mal. Und noch mal. Und noch einmal. Doch dann ist da nach 55 Kilometern der Stein mit der 0,1 und der Deich ist endgültig zu Ende.
Der Ort, in den ich hinein rolle heißt Lebus und ist eine alte historische Bischofsstadt. Wie von selbst findet mein Rad den Weg zur Kirche. Eine Pforte ist einladend geöffnet und führt in eine Art offenen Vorraum. Leise Orgelmusik ist zu hören. Zaghaft trete ich näher. Die Kirche ist leer. An der Orgel sitzt niemand. Die Musik ist dennoch raumfüllend. An einer Säule hängt ein Zettel: „Herzlich willkommen. Wir wollen Ihnen die Möglichkeit geben, in unserer offenen Kirche zur Ruhe zu kommen, zu beten, in der Bibel zu lesen oder einfach der Musik zu lauschen.“
Ich lasse mich vor der Kirche auf eine der Bänke sinken. Da steht auch eine Flasche Wasser und ein Glas. Hier hat jemand wirklich an alles gedacht. Ich lehne mich an, schließe die Augen, lausche der Musik und lasse sie wirken. Und siehe da. Der Kopf schweigt tatsächlich für einen Moment, ich atme tief aus. Und spüre, dass sich dafür mein Herz ganz erfüllt anfühlt. Angekommen.
Nur ein paar Kilometer später komme ich dann tatsächlich in Frankfurt an. Und auch irgendwie in mainem inneren Frankfurt. Oder?
WOW.
Ein Deich-Radweg
gepflastert mit Gedanken.
Eine Kirche
voll leer
mit Liebe.