Wieder auf dem Iron Curtain Trail

Ich starte um kurz vor 8 Uhr. Und denke, als ich auf den Hochdeich bei Zahorska Vez fahre: „Wie herrlich. So früh sollte ich es immer schaffen.“ 

Ein frischer, kühler Wind umfängt mich und ich genieße das Radeln. Es fühlt sich an, wie wieder angekommen. Ich auf ‚meinem‘ Iron Curtain Trail, dem Eurovelo 13. Ein großer Mäher fährt am Deichsaum entlang. Der Mann auf ihm winkt mir zu. Und dann ruft auch noch ein Kuckuck und heißt mich willkommen. Dabei ist es schon der vierte Tag meiner diesjährigen großen Radtour. Es braucht halt etwas, bis man richtig angekommen ist.

Die Strecke ist perfekt ausgeschildert und im nächsten Ort Suchohrad lässt mich ein großer roter Stern aus Beton am Wegrand anhalten.

Neugierig studiere ich die Infotafel, auf der verblasste Fotografien Schäferhunde zeigen. Offensichtlich wird hier an die tschechischen Grenzschutzhunde erinnert, die von 1955 bis 1990 im Einsatz waren. Ein ungewöhnliches Denkmal, um es vorsichtig auszudrücken. Nur 20 Meter weiter schaut ein Giraffenkopf über die Hecke. Auch ungewöhnlich, aber er lässt mich schmunzeln. Natürlich ist die Giraffe nicht echt, sondern aus LKW-Reifen. Kurzerhand erkläre ich den Tag zum Tag der Tierbegegnungen. 

Und prompt flattern um die nächste Ecke auf einem schattigen Waldweg Buchfinken tirilierend um mich herum. Weiter geht der Weg durch Rübenfelder, die bis an den Horizont reichen. In ihnen leben Hasen, die auch wenig Scheu zeigen und immer wieder hoppelt einer vor mir den Weg entlang. Als ich einmal bremse und anhalte, stoppt auch der Hase und fängt an, sich die Hinterpfote mit der Schnauze zu reinigen. Er rupft sichtlich an der Pfote. Da hat sich wohl was festgesetzt.

Wenig später tauchen am Horizont die kleinen Karpaten auf. Zartblau. Ich lasse innerlich einen kleinen glücklichen Seufzer los. „So schön, unterwegs zu sein.“ Und während ich weiter durch Rüben und Kürbisfelder in den March-Auen radele, philosophiere ich ein bisschen mit mir über den Unterschied zwischen Urlaub und Reisen. Ich komme zu dem Schluß, dass Reisen im Sinne von Unterwegs sein, ein wichtiger Teil meines Lebens ist. Ein Teil, in dem ich mich ganz bei mir fühle. So ging es mir schon im Beruf. Am schönsten war es, „draußen“ bei den Kunden zu sein. Besuchsrouten zu planen. Jetzt sind es Fahrradrouten.

Kleine Bunker tauchen neben dem Deich auf. Sie sind gut erhalten. In den Dreißiger Jahren wurden sie nach dem „Anschluß“ Österreichs von den Tschechen nach dem Vorbild der französischen Maginot-Linie gebaut.  Sie kamen nie zum Einsatz und ihr Bau wurde nach dem Münchner Abkommen 1939 eingestellt. Seitdem stehen sie geduckt wie kleine Mahnwachen an unheilvolle Zeiten hier herum. 

Als ich gegen Mittag von der Slowakei nach Österreich hinüberfahre, habe ich auf der Brücke über den Grenzfluss March die nächste Tierbegegnung. Allerdings in einer übertragenen Weise oder genauer in einer überragenden. Große quadratische Netze hängen hoch vor kleinen Holzhütten entlang des österreichischen Flußufers. Die Szenerie wirkt, als wäre ich in ein anderes Jahrhundert geraten oder in ein fernes Land. Und in der Tat so ist es. Hier an der March darf nach einem Dekret von Kaiserin Maria Theresia, das bis heute gilt, mit sogenannten Daubelnetzen gefischt werden. Willkommen in der k.u.k. Monarchie. 

Mit Daubelnetzen – so lese ich bei meiner Mittagsrast vor dem March-Thaya-Zentrum in Hohenau nach – werden Zander, Wels, Karpfen, Hecht, Tolstolob und Amur gefischt. Letztere sind mir ebenfalls unbekannt und lassen mich eher an einen russischen Dichter und einen römischen Liebesgott denken. Dabei handelt es sich, wie ich weiter lese, bei beiden um Riesenkarpfen, die eine Länge bis zu 1,30 m bzw. 1,50 m erreichen können. Allerhand, da werden sich die Daubelnetze ganz schon biegen – oder „daubeln“ wie ich wortspielend vor mich hin denke.

Aus der k.u.k. Monarchie werde ich an dem hinter der Marchbrücke liegenden Grenzübergang abrupt ins hier und jetzt befördert. Der blaue Wohn-Container am Straßenrand ist eine improvisierte Grenzstation, die aber heute nicht besetzt ist. Wie lange werden die vor 35 Jahren mühsam geöffneten Grenzen noch so offen sein, wie sie es jetzt sind? Ich hoffe, noch lange und dass wir als EU das hinkriegen.

Aus diesen Gedanken holt mich wieder das Tierleben ab. Eindeutig ein Amphibienzaun, der da die Straße hinter dem Grenzcontainer säumt. Auch eine Grenzerfahrung für Kröten und Frösche, denke ich, aber immerhin gibt es alle ca. 20 Meter einen Durchlass auf die andere Seite. Am Ende der Straße steht ein Aussichtsturm. Natürlich klettere ich rauf, immer gut einen Blick von oben zu haben. Die Botschaft, die mir dort auf einer Infotafel präsentiert wird, ist auf den Punkt: „Wer Störche liebt, muss Frösche schützen.“ Wie sich der Satz auf unsere Grenzproblematik übertragen ließe, wäre ein trefflicher Diskussionsstoff.

Am Nachmittag, inzwischen bin ich schon in Tschechien, dem dritten Land des heutigen Tages, holt mich die harte Fahrrad-Realität ein: Der Akku ist am Ende. Gefesselt von all den Ausblicken und Gedankenspielen hatte ich ganz vergessen auf den Batteriestand zu achten. Als ich mit den letzten Bits in der untersten Unterstützungsstufe die nächste Hügelkuppe erreiche, erspähe ich mit einem erleichterten Seufzer ein modernes großes Gebäude. Ein Weingut wie sich nach 200 Metern herausstellt. Doch das große Tor ist zu. Enttäuscht fahre ich weiter und siehe da, hinter der Kurve gibt es ein offenes Gittertor, durch das ich beherzt auf das Gelände einbiege. Ich lande unterhalb des Gebäudes und entere den Werkshof. Dort stehen zwei Männer und schauen mich an. Ich stoppe vor ihnen, zeige auf meinen Akku und schaue sie hilfesuchend an. „Kaputt?“ fragt der eine. „Nein, nein“ antworte ich. „Nur Strom“ und mache eine Handbewegung als würde ich einen Stecker in eine imaginäre Steckdose stecken. „Chef nicht da“, sagt er dann. Na klar, das Tor war ja auch zu! Mit den Händen signalisiere ich 20 Minuten. 2 x zwei Hände und schaue dabei flehentlich. Angesichts meines Gesichtsausdrucks erbarmt sich der eine. Ich darf das Rad in die Halle schieben und er zeigt mir die Steckdose. Erleichtert lasse ich mich im Schatten vor der Halle auf den Boden sinken und lehne mich an die Betonwand. Es sind 34 Grad. Die Männer verschwinden im Hauptgebäude. Nach einer Weile kommt der eine zurück. In der Hand trägt er ein beschlagenes Weinglas, mit etwas hellrotem, perlenden drin und reicht es mir nach unten. „No Alkohol“ sagt er verschmitzt lächelnd. Ich bin ganz gerührt und schäme mich, weil mir so plötzlich nicht einfällt, was danke auf tschechisch heißt. Es schmeckt kalt und süß und köstlich.

Nach 20 Minuten kommt er wieder und wir gehen zu meinem Rad. Die mageren zwei leuchtenden Lichter auf meinem Akku, wobei das zweite von fünf erst zuckt, sehen nicht nach einer ausreichenden Ladung aus und ich schüttele zweifelnd den Kopf, um noch etwas Zeit zu gewinnen. „Bissi Deutsch“ sagt er, Gesprächsbereitschaft signalisierend. Offenbar hat er meine Bedenken verstanden. Er habe früher in Österreich gearbeitet, verstehe ich, aber jetzt seit 10 Jahren hier im Weingut und nix mehr Deutsch. Wo ich heute hinwolle. „Zu Marko“ sage ich, noch 10 km und „bissi bergauf“, wobei ich mit der Hand Hügel skizziere. Er nickt. Marko kennt er. „Gutes Essen!“ sagt er. Fünf Minuten später erlöse ich ihn, denn mir dämmert, dass er längst Feierabend hat. Hoffentlich komme ich mit der Ladung bis zu Marko. Zum Abschied reiche ihm die Hand, die er kräftig drückt.Děkuju“, sage ich. Danke. Das Wort war mir mittlerweile wieder eingefallen.

Das sind die Erlebnisse, die mich immer wieder bei meinem Reisen überwältigen. Wenn mir unerwartet jemand etwas Gutes tut. So wie dieser Mann, der mir in der Hitze ein Glas mit etwas köstlich Kaltem brachte.  

Die Akku-Ladung reicht übrigens gerade so. Und das Abendessen bei Marko ist wirklich köstlich. Ach ja: Zum guten Schluß meines Radeltags kreuzen noch zwei Rehe meinen Weg und springen durch das Weizenfeld neben der Straße. Sehr elegant sehen sie dabei aus, während ich den sanften Hügel neben dem Feld Richtung Marko hinabsause.

2 Kommentare
  1. Stuckmann Harald
    Stuckmann Harald sagte:

    Wunderbar anschaulicher Bericht. Klingt aber in der Tat so, als ob du – abgesehen von den „Stromspendern“ – kaum Menschen, dafür um so mehr Viehzeugs getroffen hättest. Weiterhin gute Fahrt!

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